Leseproben
Freitag, 4. August 2000
Das Sonnenlicht bricht in breiter Bahn durch die Fenster. Sonnenstaub tanzt in den Lichtbahnen. Unten im Haus wird schon erzählt. Herrliches Wetter- schon nach acht- und wir liegen in den Betten! Wenn das so weitergeht, verschlafen wir noch den ganzen Urlaub!
Die Frühstücksrunde ist schon vollzählig- was den estnischen Sektor betrifft. Aber man wartet geduldig, bis auch wir uns gewaschen haben. Tiina freut sich, dass wir so gut schlafen.
Valdur sagt, wenn sie Gäste bewirten kann, hat sie immer gute Laune. Auf dem Frühstückstisch liegt die Wochenzeitung der Insel. Darin stehen alle lokalen Neuigkeiten, wird über entlaufende Hunde berichtet, Todesfälle, was so los ist und was so los sein soll in den nächsten Tagen. Und in dieser Woche ist was los auf der Insel: „Baronentage“. Der Geburtstag des Barons Otto Reinhold Ludwig von Ungern-Sternberg, des legendären „Inselkönigs“, Advokat, Gutsherr, Seeräuber, Mörder und Deportierter wird gefeiert.
Auf Suuremõisa gibt es Jazzabende, Kammerkonzerte und Schloßführungen. Wir entscheiden uns für letzteres. Obwohl- der Jazzabend heute wäre sicher interessant geworden. Aber bei Familie Kask wird heute Abend die Sauna geheizt. Und ein estnischer Saunagang ist auch nicht schlecht. Und Tiina und Raivo haben noch eine richtige Sauna, keine aus dem Baumarkt. Hinten im Garten ist sie, groß wie ein Stall, mit einer Trockenmauer vor der Tür und vielen Blumen. Und herrlich riechen tut es im Inneren, nach Rauch und Harz und frisch geschlagenem Holz. Raivo heizt den Saunaofen nämlich mit Holz, wie es sich für eine richtige Sauna gehört, und der Dörrfisch schmeckt nur am offenen Feuer. Beim letzten Besuch haben auch wir kräftig geschwitzt, im Vorraum am Kamin gesessen, Trockenfisch gepuhlt, erzählt, uns den Rücken und den Bauch mit Reisig rot geprügelt, haben gestaunt, wie viel Wasser doch aus dem menschlichen Körper austreten können und sind völlig geschafft ins Bett gekrochen. Denn der estnische Saunagang war doch ungewohnt lange für uns. Und das Saunahaus ist für die Familie genauso wichtig wie das Wohnhaus.
Das ist bei jedem Esten so. Bei Valdur im Haus hat ein Nachbar sein Bad in eine Sauna umgebaut. Nun hoffen alle Mitbewohner, dass er diese auch gut isoliert hat. Wer möchte schon Schwamm im Mauerwerk haben? Da hört die Liebe zur Sauna auf! Wie bei uns die Baubude, wird in Estland vor dem Hausbau das Saunahaus errichtet. Früher wurden die Kinder in der Sauna geboren, da dies sauberste Ort im Haus war. Sogar die Toten wurden im Saunaraum aufgebahrt. Das Leben begann in diesem Raum und wurde beschlossen.
Bei Kasks wird getrennt nach Männlein und Weiblein in die Sauna gegangen, jedenfalls wenn Besuch da ist. Doch früher sah man dies nicht so eng bei den alten Esten; da kam man schon manchmal nicht nur vom heißen Dampf in´s Schwitzen. Und die Obrigkeit sah dies nicht gern und brachte 1716 sogar ein Gesetz gegen die Unsitten in der Sauna heraus. Geschert hat´s Männlein und Weiblein wenig. Noch 1807 wurde von der Polizei mit empfindlichen Strafen gedroht.
Die Sauna ist zum körperlichen und seelischen Wohlbefinden da. Hier werden die Sorgen ausgeschwitzt und ausgesessen. Und wenn wir auch keine haben, heute Abend geht es in die Sauna. Also, heute Nachmittag 16.00 Uhr Schlossführung.
Doch vorher geht es nach Sääretirp, unser schon fast traditioneller Gang auf die Landzunge. Wieder fahren wir auf Kassari, an Orjaku vorbei, heute liegt kein Segler im kleinen Hafen, der bronzene Leiger grüßt an der Wegkreuzung, und auf dem Parkplatz vor der Landzunge stehen zwei Reisebusse mit Tallinner Kennzeichen und der Meißener Hundefänger (Wir sind überall….). Toll, dann ist wohl heute nichts mit Weltende, Einsamkeit, nur das Rauschen des Meeres und so. Doch wir haben Glück. Wir sind noch nicht einmal ausgestiegen, da kommt eine schwatzende Touristengruppe um die Wegbiegung. Eine Staubwolke- und weg sind sie. Dann, zwei Wegbiegungen weiter, treffen wir auf das Meißener Pärchen. Heute grüßen sie auf Deutsch, wir grüßen auf Deutsch. Alle grinsen, die Landzunge gehört uns!
Am Rand ein schmaler Trampelpfad, der durch den Wacholder führt. Hier geht es zu unserer Badestelle. Doch wir wollen weiter. Strandrosen blühen am Wegesrand. Ihre kleinen roten Blüten duften.
Die Mädchen sind vorgelaufen, pflücken wilde Erdbeeren und Brombeeren, und Hannes läuft neben uns her, den Discman am Gürtel und die Kopfhörer auf den Ohren. Ohne eine „Ärzte-CD“ kann man die Geräusche der Natur nicht ertragen! Na gut, waren wir mit 15 anders? Ich glaube nicht! Mein „Sonett“-Recorder war auch überall dabei. Nur er war viel schwerer und unhandlicher. Und bei mir tönte „Slade“ aus dem Lautsprecher.
Die „Ärzte“ gab es noch gar nicht.
Die Wacholderbüsche weichen zurück. Niedrige Reetgrasinseln stehen am Ufer, Seegras hat sich an Steinen verfangen. Die Landzunge wird immer schmaler, ist noch zehn oder fünfzehn Meter breit. In der Mitte hat das Meer einen niedrigen Wall kleiner Steine angeschwemmt. Auf der Seite zum Land hin ist das Wasser ruhig und glatt wie ein Spiegel. Doch die Seeseite leckt an den Steinen, und der Wind zaust in den Haaren. Nur noch Geröll und Findlinge liegen hier. Jemand hat einen großen Berg Steine aufgetürmt. Wie ein vorgeschichtliches Mal wirkt er. Valdur und Riina bleiben zurück. Die Kinder und wir wollen weiter zur Spitze. Stellenweise wird die Landzunge schon vom Meer verschlungen. Drei, vier Schritte noch- jetzt ist Schluss. Ich stehe auf einem glatten Stein. Das Wasser umspült meine Füße. Vor mir noch einige Findlinge, die halb aus dem Wasser ragen. Ein heller Streifen auf dem Grund, der sich im Blaugrau verliert. Hier hat Leiger verzagt. Hier war das Meer stärker als der Riese. Und er hätte noch etliche Meter schaffen müssen, denn von Saaremaa ist nur ein feiner grüngrauer Pinselstrich im Graublau des Wassers zu erkennen. Und der Himmel wirkt wieder so hoch und weit. So ganz anders als bei uns. Ich kann ihn nicht beschreiben, ich kann ihn nur mit den Augen erfühlen. Man muss ihn selber gesehen haben, um ihn zu begreifen. Wie eine gigantische Peitschenschnur schlängelt sich die Landzunge zum Ufer hin. Die Insel ist ein grüner gezahnter Streifen, kein rotes Dach stört dies makellose Grün. Unvorstellbar, wenn hier eine Bettenburg ihren grauen Quader in den Himmel strecken würde!
Erika kommt zu mir, und beide stehen wir wortlos auf dem Stein und genießen dieses Bild. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass die Seele sich von der Freude und Schönheit nährt. Und in diesen Minuten spüre ich dies! Tief atme ich die salzige Luft ein. Man fühlt sich so klein, wenn man das Meer sieht. Die Landzunge wirkt so zerbrechlich. Tief nehme ich dies Bild in mir auf. Doch wir müssen zurück zum Land. Die anderen warten. Wir haben noch soviel Zeit! Also ab durch das Wacholdergebüsch, von den Mücken stechen lassen und noch ein Sonnenbad in unserer Bucht, bevor es heute Nachmittag zum Baron geht.